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Malka: Die linkshändige Jüdin
Alles ist von Anfang nicht so gelaufen, wie es hätte laufen sollen.
Malka wurde in eine mittellose jüdische Familie geboren. Der Vater war Geschäftsmann, und was für einer! Hörte man Malkas Mama über das Unternehmen von Papa reden, wuchs es zu einem Großkonzern à la Bronfman. Etwas kleiner dagegen war der Familienbesitz in Rye an der englischen Südküste, brachte aber erheblich weniger Geld ein.
Papas Unternehmen: Ein Buchantiquariat. «Books Bettelmeijer» stand auf dem Schild in der Leonard Road. Kam man aus der hellen Sonne der englischen Südküste in dieses Wirtschaftszentrum, umfing den Besucher erst einmal völlige Dunkelheit. Eine einsame Glühbirne, Staub, alte Kisten, wacklige Regale waren nach und nach zu erkennen, dann vernahm man das Summen des Teekessels - das war Papas Existenz. Hier hatte die Welt keinen Zutritt - Kunden kamen selten genug. Vater redete mit seinen Bekannten viel von «Dort», von «Zuhaus». - Zuhause - das war lange vergangen, verlöscht, war ein Stetl in Polen.
Malkas Zuhause in den Fünfzigerjahren war das kleine Dorf im Süden Englands. Das waren das kleine Haus am Meer und die ersten Schulerinnerungen an Mrs. Whitton, der Klassenlehrerin mit dem Pfirsichgesicht und der unendlichen Geduld. Doch dabei fehlte Malka und ihrem jüngeren Bruder Pini etwas Wesentliches - englische Vornamen. Pinkas und Malka gehörten einer anderen Welt an. In ihren Träumen hießen sie längst MoIly und Pit. MoIIy sammelte die Bilder der jungen Königin und verstaute sie sorgfältig in einer alten Keksdose. Da war Papas Lachen, wenn er sein Mädele mit der Dose sah: «Es gibt nur einen Melech ha'Olam. Einen König der Welt.» «Ich weiß», denkt Malka, aber Molly ist es, die die Bilder der Queen sammelt, nicht Malka. Ein zufriedenes, kleines Mädchen. Mit ihren Mollyträumen lebte sie in einer glücklichen Welt.
Mutters Bruder, Onkel Herschel, hatte eine Nähmaschine besorgt. Jeden Abend nähte die Mutter bis spät in die Nacht.
Nur am Freitagabend fehlte das Geräusch der alten 'Singer' im Haus. Malka und Mutter waren stolz, denn Mama durfte für den Sir arbeiten. Der Sir wohnte im Manor-Haus, und aus Malka wurde jedesmal Molly, wenn sie das Paket mit der Wäsche «dahin» brachte. Den Sir sah sie nie. Daß der Mann außer Sir noch einen Namen haben könnte, kam ihr nicht in den Sinn. Papa nannte ihn den Goj. Papa nannte alle Nichtjuden Gojim.
Sorgsam wachten die Eltern darüber, daß die Kinder nicht bei Fremden aßen. Beim Schulpicknick saß Malka mit ihrem Korb, dessen Inhalt kosher war, immer abseits. Im Hinblick auf die Speisevorschriften wäre aus Malka nie Molly geworden. Gojisch wollte sie nicht sein, nur ein bißchen englisch. Vater und Mutter sprachen die «neue» Sprache so gut wie gar nicht. «Was für ein Leben! Mein eigen Fleisch und Blut kann ich nicht verstehen», klagte die Mutter immer öfter.
Ob es an der Sprache lag, daß sich Molly an einem düsteren Novembermorgen mit ihren Habseligkeiten, mit Bruder und Eltern in einem Transportauto, einem Bedford, wiederfand? Mit Sack und Pack ging es nach Dover, dann über den Kanal und von da wieder in den Bedford - mit Endstation Deutschland.
Man zog nach Köln oder Kelln, wie die Eltern sagten, in die Alteburgerstraße, in ein heruntergekommenes Mietshaus, in eine kleine Wohnung, erfüllt vom ekelerregenden Geruch der nahen Brauerei, umgeben von Trümmergrundstücken.
Es folgte ein wochenlanges Hin und Her von einem Amt zum anderen, dann zur jüdischen Gemeinde und wieder zurück in die finstere Südstadtwohnung.
Sie hatten Glück, die Bettelmeijers. Mutter durfte früh am Morgen den Laden von Herrn Hamburger putzen und am Abend im Kaufhaus der Familie Liedermann die Regale auffüllen. Für Vater hatte die Gemeinde den Posten des Friedhofschließers erfunden. Die restliche Zeit saß er herum. Seine Leit, Leute wie seinesgleichen, gab es hier nicht.
Malka und Pini saßen oft im Treppenhaus, ohne viel zu reden, aber voller Sehnsucht nach ihrem Zuhause. Dann kam der Tag, der alles noch schlimmer machte, als es ohnehin schon war. Mutter meldete Malka in der Schule Sankt Cyprian an, der katholischen Volksschule für Mädchen, einem roten Klinkerkasten am Rhein.
Malka wurde von Fräulein von Bürgisch vor der Klassentüre in Empfang genommen. Fräulein von Bürgisch war klein, alterslos, grell geschminkt, in eine Toskawolke gehüllt. Sie schob Malka in die Klasse. Vierzig Mädchen starrten neugierig auf die Neue. In ihrem roten, viel zu engen Mantel stand sie vor ihnen. «Setz dich dorthin», sagte Fräulein von Bürgisch. Irgendwo in der zwölften Reihe fand Malka Platz. Helga, so stellte sich später heraus, war ihre Banknachbarin. Das Mädchen rückte ihre Bücher zur Seite, damit sie von diesem frem den Etwas im roten Gewand ja nicht berührt wurden.
«Malka kommt aus England», gurrte Fräulein von Bürgisch. «Sie spricht schon etwas Deutsch, und was sie nicht kann, werden wir ihr beibringen.» Das Deutsch, von dem Fräulein von Bürgisch sprach, war ein Kauderwelsch aus Jiddisch und Hochdeutsch.
Der erste Tag ging vorbei, ohne daß Malka noch ein mal beachtet worden wäre. Auf dem Heimweg riefen ein paar Klassenkameradinnen hinter ihr her: «Zum Schieflachen! Die kütt met enem Koffer in de Schul.» Gemeint war die englische Schultasche aus gepreßtem Pappmachee In der Hand getragen sah sie aus wie eine Mischung aus Munitionskoffer und Werkzeugtasche, nicht so, wie sich im Jahr 1957 ein paar kleine Kölnerinnen Schultaschen vorstellten.
Pini erzählte gar nichts von seiner Schule. Wenn Malka heute daran zurückdenkt, ist ihr, als sei der Bruder in Köln verstummt. Aber der erste Kölner Schultag war im Gegensatz zu allem, was darauf folgen sollte, eine geradezu fröhliche Erinnerung.
Fräulein von Bürgisch nahm sich Malkas Linkshändigkeit an. «Das geht nicht, Kind». Sprach's und band Malkas linken Arm mit einem Tuch am Körper fest. Dieses Schwarzwaldtuch, wahrscheinlich ein Reiseandenken der Lehrerin, wurde täglich neu gefaltet, neu umgebunden. Das grün-bunte Baumwolltuch bot jeden Tag neue Ausflugsmöglichkeiten, einmal Triberg, ein andermal Titisee oder Glottertal.
Frauen mit Bollenhüten, «Black Forest», Schwarzwaldhäuser und dunkle Tannenwälder - Folklore für immer ins Gedächtnis eingebrannt.
Während Malkas rechte Hand ungelenk den Stift hielt, drängten sich Todtmoos und St. Blasien auf. Die anderen Mädchen zischelten. Monika und Ursula hatten die Zeit «aus Links mach Rechts» schon hinter sich. Zuhause sprach Malka nicht über das Schwarzwaldtuch. Kein Wort darüber, daß man ihren linken Arm lahmlegte. Mama wunderte sich nur. «Auf einmal kann Malka rechts schreiben», stellte sie fest.
Malka schreibt rechts.
Rollschuhlaufen und mit den Klickern spielen, beides in unmittelbarer Nähe des Rheinufers, dann das Beatles-Fieber und die große Liebe zu Ringo Starr. Es folgte eine Banklehre, damit verbunden das erste Ausgehen in die Mona-Bar am Ring, das Schlürfen einer Cola und viele andere Freiheiten.
Malka, das Wirtschaftswunderkind, fliegt Jahre später nach Israel. Den Kopf fest gegen den Sitz gepreßt, gibt sie sich ihren inneren Bildern hin. Fräulein von Bürgisch mit dem Pfirsichgesicht, Mrs. Whitton in eine Toskawolke gehüllt, beide Malkas Arm einbindend, anbindend. Im Hintergrund das rhythmische Geräusch der Singer-Nähmaschine alles jäh zerrissen durch Vaters knarrende Friedhofstür.
Malka spürt Werners Hand, sie ist nicht allein. Werner, der junge Zivi, ein Kriegsdienstverweigerer, begleitet sie auf ihrer Reise nach Atalit. Pini, der seit Jahren in Israel erfolgreich als Makler lebt, hat veranlaßt, daß seine Schwester aus dem Landeskrankenhaus in Bonn ins Sanatorium nach Atalit kommt. In der Nähe von Haifa wird sie eine neue Heimat finden müssen.
Mit ihren Händen umschließt Malka die Dose mit den Bildern der jungen Königin. Sie braucht die Dose nicht mehr zu öffnen. Das Lächeln der Königin bleibt darin gefangen.
Eine einsame Königin in ihrem Büchsenreich. Für immer gefangen.
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